Karsten Kriesel, Der Sack und Ich
Wieviel getan wird, für etwas, das nicht existiert.
Wieviel getan wird gegen etwas, das unverbrüchlich existiert und nicht zu verhindern ist.
Es sah nicht gut aus. An Schläuche geschlossen, literweise Chemie in mir, in einem isolierten sterilen Raum, den andere nur bis an eine Plastikfolie betreten durften, die sie und ihre potentiell tödlichen Keime von mir fernhielt, lag ich da. Komplikationen waren eingetreten, statistische Wahrscheinlichkeiten zu einer quälenden Realität geworden, die den medizinischen Plan aus den Angeln hoben und der ganzen Sache ein Happy End zu verweigern schienen. Der Kontrolle über viele meiner Körperfunktionen beraubt, außer der Fähigkeit, Schmerzen zu empfinden und beunruhigende Gedanken zu fassen, kam mir irgendwann, nachdem die Gedulds- und Trosttiraden meiner geliebten Mitmenschen begannen, sich verzweifelt im Kreis zu drehen, das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, den ich vorher noch nicht gesprochen hatte. Die Klinikpsychologin war es nicht, die hatte versagt.
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Er antwortete nicht. Beziehungsweise antwortete er mit den Nachrichten. Mit Terror, Kulturkampf, Tod, Zerstörung. Unendlich schlimmer, grausamer und vor allem sinnloser als mein desolater Zustand in diesem Krankenbett. Die Welt war schlecht, mir war schlecht. Moment mal: Da sollte mich einer erlösen, mir den potentiell nahenden Tod erträglicher machen, und was sehe ich: Eine Todesmaschine, die seinen Namen trägt. Warum hat einer, der den Tod sinngebend erleichtern soll, ihn bloß über das Leben gesteigert?
Gott.
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Menschen können denken, fühlen. Sie sind fähig, Schönheit und Liebe zu empfinden und zu genießen. Aber sie müssen auch Schmerzen ertragen, und diese steigern sich, im Rahmen der menschlichen Denk- und Vergleichsfähigkeiten, die dem Tier fehlen, zum Leiden. Den Menschen kann unendlich Schönes und unendlich Grausames Treffen und er hat die Fähigkeit, es reflexiv zu empfinden, empfindend zu reflektieren. Und dann sterben die Menschen, und das, wenn sie Pech haben, bei vollem Bewusstsein, und alles ist aus.
Zum Nachdenken befähigt, zum Grübeln verdammt, kommen einem in dem Moment, wo nichts mehr zu gehen scheint, Gedanken nach einem Sinn des Ganzen, nach Höherem.
Die Königsfragen des Lebens, Fragen, an denen niemand auf Dauer vorbeikommt, (z.B. Wozu bin ich auf der Welt?) führen zu einem König. Wir entwickeln das „unglaubliche Bedürfnis zu glauben“ (Julia Kristeva). Ein Grund des Glaubens und gleichzeitig sein Problem: die Komplexität und Schönheit des Lebens.
Aber eine Instanz die sagt „Du wirst deinen eigenen Tod überleben“ ist schon mal recht attraktiv.
Der Mensch hält sich als oberstes Lebewesen nicht aus, da über ihm keine Autorität mehr ist, die ihn lenkt, sagt, was richtig und falsch ist. Um dieser totalen Eigenverantwortung, bei gleichzeitigem Ausgeliefertsein in die Gegebenheiten der Natur, zu entgehen, hat er sich eine künstliche Autorität geschaffen, um in ihr angebliches Regelwerk seine Taten einordnen zu können und damit zu legitimieren.
So hat sich der Mensch diesen Gott gebaut, um sich wieder ausruhen zu können. Denn keinen Gott zu denken, dieses Wunder Mensch , welches Schönheit wie Grausamkeit hervorbringt, als aus der Natur rein physikalisch, chemisch biologisch hervorgegangen zu sein, zu denken, ist anstrengend, es macht keinen tieferen Sinn, nach dem uns so das Bedürfnis steht.
Götter sind demnach (Sinn-)Konstruktionen, aber willkürliche. Das belegt die zum einen die Vielzahl der spirituell möglichen Richtungen von Gottglauben und zum anderen die Fundamentalität der monotheistischen Religionen, die Sinn möglichst eindeutig und total erfassen möchten. Denn spätestens Institutionalisierung verbaut den persönlichen Weg zu einer Hoffnungs- und Halt gebenden göttlichen Instanz. Es gibt viele Religionen, alle können nicht Recht haben. Glaube erzeugt Militanz. Viele Gläubige meinen, genau zu wissen, was richtig ist, Argumente gelten nicht mehr. Es kommt zu einer Aufteilung der Welt in gut und böse, plötzlich dürfen welche leben und welche nicht, die Kriterien erscheinen willkürlich.
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Und ich hatte doch gerade mal wieder gelernt, ganz physisch, dass wir alle nur Menschen sind, und nichts als gleiche Menschen. Biologische Masse mit denselben Voraussetzungen.
Wenn man scheiß Schmerzen hat, es einem körperlich wirklich elend geht, sind einem Schönheit egal oder Etikette, Würde, Spiritualität sowieso. Es geht nur noch um das Leben an sich. Doch diesen primitiven Genuss am puren kreatürlichen Leben zu spüren kann ein ganz irdischer Gewinn für bessere Zeiten sein und einem von viel sinnloser, bremsender Spiritualität lösen.
Schmerzen sind so lästig wie lebensnotwendig. Für Platon war Schmerz eine seelische Erfahrung, die dem Menschen seine verlorene Ganzheit wieder vor Augen führt, hatte also ein göttliches Moment, ist aber gleichzeitig, ganz irdisch eine der intensivsten Formen des Selbsterlebnisses: „Was uns nicht aufhört weh zu tun, bleibt im Gedächtnis.“(Nietzsche)
Götter und Religionen versprechen meist eine Überwindung des Schmerzes in der Auferstehung nach dem Tod. Gleichzeitig wird häufig das Ertragen, gar das bewusste Zufügen von Schmerz, an sich selbst und anderen, im Leben postuliert. Berechtigt es die Existenz eines Gottes, dass er das Unerträgliche etwas erträglicher macht, nicht abschafft, im Vergleich zur Grausamkeit, die die Existenz Gottes mit sich bringt bzw. legitimiert?
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Der Tod war mir nah dieses Jahr. War mir deswegen auch Gott nah? Braucht man einen Gott für eine Einsicht in den Tod? Was nützt einem ein Gott, wenn es einem trotzdem scheiße geht?
Viel Schlimmes wird getan im Namen von Göttern, oft eines Gottes, des Gottes: Aber alles tut der Mensch. Er trägt die Schuld, die er wegweist an den Gott, sich dabei anmaßt, in dessen höherem Willen zu handeln. Er entschuldigt damit sein intelligentes Barbarentum. Darüber nachdenken zu können, durch rationale Reflexion anders handeln können und doch Böses zu tun, das ist das Paradox des Menschen.
Der Mensch hat sich das Konstrukt Gott geschaffen, um sich den Tod zu erklären, erträglicher zu machen. Aber dann haben sich die Gewichtungen verlagert, zugunsten des Todes, des Jenseits. Gott ist lebensfeindlich geworden und er hat dem Leben dadurch keinen entscheidenden Sinn gegeben, außer es durchzustehen. Die Gläubigen haben sich so sehr auf die Erlösung nach dem Tod versteift, dass sie das eigentliche, was Gott ihnen erleichtern sollte, nicht nur vernachlässigen, sondern tyrannisieren. Jenseitsfixierung führt zu Lebensfeindlichkeit. Und das Leben ist nun mal wie der Tod Realität und somit laut Woody Allen der einzige beweisbare Ort, „an dem man ein anständiges Steak bekommen kann“.
Glauben ist nicht Wissen. Der Tod ist ein Fakt. Der Tod holt die Menschen einfach so, Gott knüpft Regeln, wer zu ihm kommen darf. Gott singt nur Playback, eigentlich spielt der Mensch und stellt Gott dazu auf die Bühne. Der Tod spielt live.
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Aber sterben müssen wir alle, wozu brauchen wir da einen Gott.
Kann man den Tod denn nicht als echte ErLÖSUNG begreifen, ohne neue Bindungen und Verpflichtungen.
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Mich hat angesichts des eigenen Todes, besonders im Rückblick auf mein Leben, die mögliche Einsicht in einen Gott eher enttäuscht. Die Hoffnung, Halt zu finden, hat sich nicht erfüllt, der konnte nur praktisch, irdisch kommen.
Natürlich kommt man leicht an den Punkt, sich zu fragen: warum? Warum ich? O.k., ich war böse, nie besonders gottesfürchtig, gar sündig und blasphemisch…na und? Es erschien mir stets unwürdig, ein guter Mensch nur deshalb zu sein, weil ich andernfalls Angst vor einer etwaigen Strafe Gottes haben müsste. Solche Systeme der Bestechung und Angst können mich nicht sonderlich motivieren. Sollte ich demnach nur eine Lektion erteilt bekommen. Dann habe ich nichts gelernt. Warum auch. Anderen, viel lieberen, gottesfürchtigeren Menschen widerfährt Schlimmeres. Wozu -da ist es, dieses ewig sich kreisende Warum-Denken-, wo ist da der Plan, die göttliche Gerechtigkeit? Und ich war auch trotzdem immer gut, habe versucht, einfach Mensch zu sein, niemandem zu schaden, was Gläubigen mitunter ja recht egal ist. Ich habe Familie, Verantwortung, ich kümmere mich um Menschen, die sonst, ohne mich, viel schlechter leben würden. Und jetzt soll ich sterben. Ich schrie Gott an: Warum machst du so etwas? Was soll das, wo ist der Plan?
Aber spätestens im Raster der globalen Leiden sollten man schnell die Sinnlosigkeit, die Ziellosigkeit dieser Fragen erkennen können.
Es schlichen sich aus Kraftlosigkeit Gedanken und Gefühle ein, die ich nicht wollte. Bin ich ein Verräter an mir, wenn ich mich beim Beten ertappe?
Ich will keinen Gott brauchen.
Gott existiert für mich nicht und ich will ihn auch nicht zu Rate ziehen müssen, um mir etwas erträglicher zu machen. Aber er drängt sich mir auf und das enttäuscht mich. Gott als Schwäche, denn ich sehe zu welchen Schwächen Glaube an Gott verleitet.
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Aber wir können uns nicht von dem lösen, was wir verurteilen. Wir brauchen Halt.
In Zeiten der Not sucht man diesen Anker, während, das belegt unter anderem das anarchistisch dionysische Festverlangen des Menschen, wie es seit Alters her in allen (Religions-)Gemeinschaften vorkommt, in Freudenzeiten der dem Menschen ebenso gegebene Hedonismus in den Vordergrund rückt.
Das innige Verlangen, an einen Masterplan zu glauben, drängt sich einem auf. Man entspannt sich aber, wenn man sich davon löst, wobei ich hier eher an eine rationalistische Einsicht in die Situation denke als an Schicksalsergebenheit. Aber selbst Schicksalsergebenheit muss ja nicht gleich in den Glauben an einen göttlichen Plan fußen, denn dann kann man sich genau so gut fragen, warum der Plan nicht, aufgrund seiner Schwächen geändert wird oder von vornherein besser hätte aussehen können.
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In der Abwägung, was der Glaube an einen Gott der Menschheit an Vorteilen zu geben vermochte, im Vergleich zu den Tyranneien, die er über sie gebracht hat, konnte ich auf das das bisschen Trost ganz gut verzichten und gab mich, den Tod als Ende in Kauf nehmend, meinem bisschen Rest Leben hin. Wie schön plötzlich meine Pisse roch, nach Exzessen, Partys, Cornflakes mit Milch und Bahnhofstoiletten auf Reisen. Selbst wenn mein Tod jetzt ungerecht und sinnlos erscheint, hätte ich nur, um diesen kleinen, aber schweren Moment etwas erträglicher zu machen, mein Leben nicht anders und letztendlich unfreier leben wollen.
In der Klinik, an den Schläuchen, unter Schmerzen, während der Nachrichten habe es für mich auf einen einfachen Nenner gebracht: Gott existiert nicht, oder er ist ein Sack!
Was für einen Gott will man sich denken: Einen, der lenkt, bestimmt und letztendlich die vermeintlich Guten aufnimmt? Oder einen, der alles bloß erschaffen hat und nunmehr bloß sein Werk betrachtet?
Erster Fall: Gott will es so, die Gottinstitution ruft neben ein paar guten Eigenschaften, wie Nächstenliebe –meist nur unter Gleichgläubigen- unendlich sinnlose Grausamkeiten hervor und Gott lässt es zu. Unsere Moderne Ethik, Menscherechte, Gleichberechtigung fußen als Tugenden nicht auf Religion, sondern liberalem Konsens und menschlicher Vernunft. Nur bestimmte Teile heiliger Schriften stimmen damit überein, z.B. die Bergpredigt, andere, z.B. das 5. Buch Mose, überhaupt nicht. Gott präsentiert sich, so der Evolutionsbiologe Richard Dawkins, in seinen vermeintlichen schriftlichen Manifestationen allzu häufig als „frauenfeindlicher, homophober, größenwahnsinniger, sadomasochistischer, launisch-boshafter Tyrann“. Ein echter Sack!
Zweiter Fall: Gott hat alle Schöpfung losgetreten und ist dann in Rente gegangen? Von mir aus, aber dann ist er für meine Belange irrelevant, ich kann ihn auch „Urknall“ nennen. Alles, was folgte waren fehlgeleitete menschliche Konstrukte, Religionen, laut Freud, „kollektive Zwangsneurosen“. Alle Grausamkeiten kommen nicht von Gott, sondern werden nur über ihn legitimiert. Na toll, dafür brauche ich ihn nicht. Schlimmer noch: Hätte ein Gott wirklich nur erschaffen und würde nunmehr nur betrachten, wäre er sogar ein überaus voyeuristischer Sack, perverser als jeder Nachmittags-Privatfernsehen-Zapper. In dieser Konstellation kann man ihn als nicht existent für die Geschicke der im Argen liegenden Welt betrachten. Er dient mehr dem Tod als dem Leben.
Ein guter Gott, mit einem Plan, ist für mich nicht denkbar. Ich wüsste nicht, in der Betrachtung der großen Welt aus meiner kleinen heraus, wo ich ihn finden sollte. Alles, was ich an Schönheit finden kann, an Genuss, Trost und Erbauung, ist irdisch. Und Zwänge gibt es ebenfalls im Leben selbst genug.
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William Faulkner hat einmal geschrieben: „Wenn man mich vor die Wahl stellt zwischen dem Leiden und dem Nichts, entscheide ich mich für das Leiden.“
Jean Paul Belmondo antwortet in Godards „Außer Atem“ treffend darauf: „Leiden ist ein Kompromiss. Ich will Alles oder Nichts.“
In diesem Sinne lebe ich mein Leben. Tod kommt früh genug. Und dann wird es halt dunkel. Na und…